Neurotraining – mehr als nur ein Trend?

Unser Gehirn liebt neue Reize und neue Impulse. Warum die Techniken des Neurotrainings wirken und dem Kunden hohen Nutzen bieten, erläutert Prof. Dr. Ulf Sobek.
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Neurotraining als ganzheitlicher Ansatz: Prof. Dr. Ulf Sobek (DHfPG) erläutert das neue Trainingssystem
Neurotraining als ganzheitlicher Ansatz: Prof. Dr. Ulf Sobek (DHfPG) erläutert das neue Trainingssystem
Schon wieder ein neues Trainingssystem? Warum sollte ich mich damit beschäftigen? – Viele innovative Trainingssysteme wurden in der breiten Öffentlichkeit anfangs belächelt, wenn nicht sogar als unsinnig abgetan. Wäre die Branche nicht offen für nachhaltige, erfolgreiche Innovationen, gäbe es weder das Bodybuilding noch das Cardio-Training und höchstwahrscheinlich auch kein EMS-Training. Das ist Grund genug, sich das Neurotraining und seine Anwendungsgebiete genauer anzusehen.

Wer sich ein wenig mit der Geschichte der Fitness- und Gesundheitsbranche beschäftigt ('Historie der Fitnessbranche', fMi 1/2019 – 6/2019), stellt fest, dass es immer wieder Trends gab, die anfangs von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurden und scheinbar zu 'exotisch' waren. Beispiele, die dies belegen, sind unter anderem das Bodybuilding, die Aerobic-Welle und das heutige EMS-Training. Die Liste der Trends ließe sich beliebig ergänzen.

Diejenigen, die ein Gespür für den Markt haben, die erkennen, welche Trends nachhaltig sind, konnten immer schon davon profitieren.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Neurotraining häufig nur als eine Facette des Leistungssports wahrgenommen, was falsch ist.

Leider führen medienwirksame Aktionen wie das Lecken an einer Batterie zu einer völlig falschen Vorstellung vom Neurotraining (Focus, 2018). Von der öffentlich wirksamen Darstellung des Trainings (u. a. Hauser, 2019) profitieren dann aber wiederum beide Seiten.

Die Anwendungsgebiete des Neurotrainings sind jedoch weitaus umfassender und werden zunehmend in fast allen Bereichen des Fitness- und Gesundheitssports zum Einsatz gebracht.

Umfassende Anwendungsgebiete des Neurotrainings

Eric Cobb hat das sogenannte 9S-Modell entwickelt (vgl. Abb. 1). Dieses Modell vom Neurotraining ist eine Erweiterung von Sportentwicklungsmodellen der ehemaligen Sowjetunion und Kanada (Green & Oaklex, 201; Riordan, 1980; Sport for Life, 2020).

Vereinfacht dargestellt geht es darum, den Kunden zu einem lebenslangen Sport zu befähigen, was ohne jeden Zweifel ein Ziel der Fitness- und Gesundheitsbranche ist.

Der Kunde steht immer im Mittelpunkt des 9S-Modells. Jeder Kunde wird dabei als Athlet bezeichnet und so auch in der Betreuung gesehen, da bspw. auch das mehrstündige Sitzen vor dem PC eine körperliche und geistige Leistung ist, die täglich ohne Probleme erbracht werden muss.

Das Zentrum der Betrachtung: der Athlet

Die Idee hinter dem Modell ist, dass der Athlet hinsichtlich seiner  individuellen Voraussetzungen und den sportlichen Anforderungen gefördert wird.

Es werden also je nach Bedarf die einzelnen Elemente des Modells genutzt (vgl. Abb. 1), um die Defizite auszugleichen und die Kompetenzen des Athleten zu vergrößern. Dabei liegt jedem Element der neuronale Ansatz zugrunde, d. h. die bekannte, wissenschaftlich belegte Neuroanatomie wird in die Praxis übertragen.

Der Mehrwert des Neurotrainings besteht demnach darin, bekannte Konzepte aus dem 9S-Modell mit der Praxis anwendungsorientiert zu verknüpfen.

Das Neurotrainingsmodell (vgl. Abb. 1) umfasst neun Elemente.

Dr. Cobb nennt es das 9S-Modell, da jedes Element im amerikanischen Original mit einem 'S' beginnt. Dies sind Kraft (engl.: strength), Ernährung (engl.: sustenance), Fähigkeiten (engl.: skill), Beweglichkeit (engl.: suppleness), Ausdauer (engl.: stamina), Struktur (engl.: structure), Einstellung (engl.: spirit), Stil (engl.: style) und Geschwindigkeit (engl.: speed).

Wobei die deutschen Übersetzungen in der Bedeutung etwas von ihrer ursprünglichen Aussagekraft verlieren, da die Begriffe umfassender zu verstehen sind.

Das Modell dient der Beantwortung der Frage: Wie unterstützt man den Athleten, um seine Leistung zu verbessern, statt ihn zu 'brechen'?

Dieses Paradigma des Athleten als 'vermittelndes Zentrum', bei dem dieser im Mittelpunkt steht und nicht irgendeine Methode, dient als robuster Ansatz für das Langlebigkeitstraining, der weit über die Grundlage von Bewegungsübungen hinausgeht.

Damit kann dieser Trainingsansatz für alle Ziele im Fitness- und Gesundheitsbereich angewendet werden. Stellt man sich jedes 9S-Element als einen Tank vor, der mit den jeweiligen Inhalten gefüllt ist, kann man diese Inhalte dem Athleten je nach Anforderung 'zufließen' lassen.

Das Modell des Neurotrainings nach Dr. Erik Cobb (9S-Modell)

Ganzheitlicher Trainingsansatz

Die besten Übungen, die effektivsten Ernährungsstrategien, das beste Rehabilitationsprogramm nützen überhaupt nichts, wenn der Athlet die Inhalte nicht umsetzt.

Hier müssten aus dem Tank 'Einstellung' entsprechende Umsetzungsstrategien dem Athleten 'eingeflößt' werden, damit dieser seine Ziele tatsächlich auch erreicht. Hier kämen Techniken der Gesprächsführung und Modelle der Verhaltenspsychologie zur Anwendung.

Der Kunde hat Schwierigkeiten mit der Kniebeuge. Der Neurotrainer wird für die Verbesserung der Technik in Betracht ziehen, dass das Problem im Gleichgewichtsorgan (Sacculus), im Mittelhirn (Mesencephalon), das aufgrund der Hirnnerven III und IV (Nervus oculomotorius und Nervus trochlearis) oder in einer Störung der Eigenwahrnehmung (Propriozeption) liegen könnte. Nach der Analyse der Systeme wählt der Trainer dann die geeigneten 'Drills' (Übungen) aus den jeweiligen Tanks aus.

Ein optimales Zusammenspiel von visuellem, propriozeptivem und vestibulärem System ist nach wie vor die Basis (siehe dazu 'Gehirn und Muskel als Partner (Teil 1)', fMi-Ausgabe 2/2020) des Neurotrainings.

Anhand des 9S-Modells wird deutlich, dass es kein Ziel gibt, das nicht erreicht werden könnte, sei es die Verbesserung der sportlichen Leistung, die Rehabilitation, die Prävention oder die
Gewichtsreduktion.

Das Alter spielt für das Neurotraining keine Rolle. Bei Kleinkindern (z. B. Förderung der motorischen Entwicklung, Konzentrationssteigerung) sowie Erwachsenen (z. B. Schmerzfreiheit, Kraftsteigerung) und bis ins höchste Seniorenalter (z. B. Sturzprophylaxe, Rehabilitation) können die Neurotrainingstechniken eingesetzt werden.

Fazit

Das Training nach den Prinzipien und Erkenntnissen der angewandten Neurowissenschaften ist ganzheitlich und stellt den Kunden als Athleten in das Zentrum des Systems.

Es lohnt sich also, sich mit diesem neuen Trend, der schon bald keiner mehr sein, sondern sich fest in der Branche etablieren wird, auseinanderzusetzen. Die Techniken wirken und bieten dem Kunden einen hohen Nutzen. Unser Gehirn liebt neue Reize und neue Impulse, das macht das Neurotraining doppelt so interessant, da es persönlich (Eins-zu-eins-Betreuung) ist und den Kunden beim Erreichen der eigenen Ziele unterstützt.

Prof. Dr. Ulf Sobek

Über den Autor

Prof. Dr. Ulf Sobek ist u. a. Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) und der BSA-Akademie. Er promovierte im Fachbereich Sportwissenschaft und ist seit einigen Jahren als Experte im Bereich Fitness- und Athletiktraining für U-Nationalmannschaften des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und die DFB-Akademie tätig. Darüber hinaus ist Ulf Sobek zertifizierter Neurotrainer.


Auszug aus der Literaturliste

Hauser, P. (2019). Revolution: Das Training der Zukunft. Zugriff am 25.05.2020.
Sport for Life. (2020). Long-Term Development Stages. A clear path to better sport, greater health, and higher achievement. Zugriff am 25.05.2020.

Für eine vollständige Literaturliste kontaktieren Sie bitte marketing@dhfpg-bsa.de.


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