Gehirn und Muskel als Partner - Grundlagen des Neuroathletiktrainings (NAT)

Fitnesstrend Neuroathletik: In Teil 1 unserer zweiteiligen Artikelreihe widmen sich unsere Experten den Grundlagen, Hintergründen und Zielsetzungen des Neuroathletiktrainings.
Lesezeit: 5 Minuten
Fachartikel Grundlagen des Neuroathletiktrainings (NAT) der Sportwissenschaftler Daniel Kaptain und Ulf Sobek
Fachartikel Grundlagen des Neuroathletiktrainings (NAT) der Sportwissenschaftler Daniel Kaptain und Ulf Sobek
Immer wieder werden in der Fitnessbranche neue Trends 'geboren'. Einer dieser Trends ist das Neuroathletiktraining (NAT), dessen Bekanntheit in Europa in den vergangenen Jahren vor allem durch das von Dr. Eric Cobb (Z-Health® Performance Solutions) entwickelte neurozentrierte Training zugenommen hat. Der erste Teil dieser zweiteiligen Artikelreihe behandelt die theoretischen Grundlagen, Hintergründe und Zielsetzungen des Neuroathletiktrainings.

Das Neuroathletiktraining (NAT) basiert auf der ganzheitlichen Betrachtung aller an einer sportlichen Bewegung beteiligten Funktionssysteme des Körpers. In diesem Kontext spielt vor allem das zentrale Nervensystem, bestehend aus Rückenmark und Gehirn, eine bedeutende Rolle.

Die weiteren zentralen Systeme sind das propriozeptive, das visuelle und das vestibuläre. In Anbetracht der Funktionssysteme, auf die das Neuroathletiktraining abzielt, erklärt sich von selbst, weshalb dieses auch als Erweiterung des klassischen, orthopädisch-mechanischen Ansatzes verstanden werden kann.

Diese neue Betrachtungsweise stellt vor allem in heutigen Zeiten der Bewegungsarmut und -monotonie eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Darüber hinaus bietet das NAT weiteres Potenzial zur Steigerung der sportlichen Leistungsfähigkeit. Die Zielsysteme des NAT werden nachfolgend genauer dargestellt.

Das propriozeptive System

„Die Propriozeption, auch Tiefensensibilität oder Eigenwahrnehmung genannt, ist die bewusste und unbewusste Verarbeitung afferenter Informationen über die Gelenkstellung, -bewegung und -kraft durch das zentrale Nervensystem“ (Quante & Hille, 1999, S. 306).

Dabei spielt vor allem die Kommunikationsgeschwindigkeit, also die Zeit von der Reizaufnahme der Gelenkrezeptoren bis zum Beginn des Bewegungsvollzugs durch einen neuronalen Impuls des Zentralnervensystems (ZNS) an die entsprechende Muskulatur, eine entscheidende Rolle.

Die inhaltliche Strategie des NAT ist demnach sowohl die Rezeptoren in der Peripherie (Haut, Band/Kapsel, Sehnen, Knorpel etc.) gezielt zu stimulieren, als auch das ZNS durch die Erweiterung von Bewegungsmustern (Neuroplastizität) zu aktivieren.

Dies bedeutet, dass bestimmte Bewegungsmuster in ausgewählten Gelenken und externe neuromuskuläre Reize zur Potenzierung der Systemleistung eingesetzt werden.

Das visuelle System

Das visuelle System ist der erste Analysator, der dem Gehirn Informationen über die Umweltbedingungen liefert. Durch die Reizaufnahme des visuellen Systems werden die meisten 'Daten' an das ZNS geliefert, die dort in einem Aktionsplan (Bewegungsentwurf/-steuerung) verarbeitet werden.

Die visuelle Information von der eigenen Bewegung umfasst sowohl die direkte Information über die Ausgangssituation vor Bewegungsbeginn als auch die Situationsveränderung während des Bewegungsvollzugs selbst.

Das vestibuläre System

Das vestibuläre System ist zuständig für die Orientierung von Position und Bewegung (Drehsinn und Geschwindigkeitsempfinden) im Raum und liefert somit einen elementaren Referenzwert für die anderen genannten Systeme (Schmid-Fetzer & Lienhard, 2018).

Durch vestibuläre Signale (Vestibularorgan = Gleichgewichtsorgan; Lage im Innenohr) findet eine ständige Informationsübermittlung an koordinierende Zentren über die Lage des Kopfes im Schwerefeld der Erde statt.

Bewegungen des Kopfes werden in Richtung und Beschleunigung erfasst. Der Vestibularanalysator hat dementsprechend für die Koordination von Bewegungsabläufen einen hohen Stellenwert, insbesondere in Sportarten mit turnerischen und akrobatischen Elementen.

Aufgaben des neuromuskulären Systems im Alltag

Zunächst muss festgehalten werden, dass es die Hauptfunktion unseres Gehirns ist, unser Überleben zu sichern. Bei allem, was wir tun, analysiert unser Gehirn immer, ob es sicher für uns ist. Danach werden die Entscheidungen getroffen.

Anhand der in Abbildung 1 dargestellten Übersicht ist es nachvollziehbar, dass die Teilsysteme einander beeinflussen und die Leistungsfähigkeit eines jeden Teilsystems elementare Bedeutung für die Ausführung von Bewegungsmustern hat.

Abb. 1: Input – Interpretation – Output (modifiziert nach Lienhard, 2019, S. 9) – Grundlagen des Neuroathletiktrainings

Abb. 1: Input – Interpretation – Output (modifiziert nach Lienhard, 2019, S. 9)

Ein Beispiel soll das illustrieren: Ein Sportler läuft über einen unebenen Waldweg. Das visuelle System nimmt ein Schlagloch frühzeitig wahr und leitet die Informationen über die Beschaffenheit des Untergrundes an das ZNS weiter.

Dieses wiederum aktiviert die entsprechenden Muskelgruppen und Gelenkrezeptoren, um einen gezielten (horizontalen) Sprung zu absolvieren.

Sowohl in der Lauf- wie auch in der Sprung- und vor allem in der Landephase reguliert der vestibuläre Sinnesapparat die sich ändernden Gleichgewichts- und Geschwindigkeitsbedingungen und zentriert die Lage des Körpers im Raum.

Eine Besonderheit ergibt sich natürlich auch aus der Beschaffenheit des Untergrundes im Allgemeinen. Ist dieser besonders rutschig bzw. uneben, so sind es die Mechanorezeptoren (z. B. lokalisiert an den Füßen), die diese visuell nicht wahrnehmbare Beschaffenheit erkennen und über afferente Leitbahnen an das Gehirn senden.

Hier wird diese Information schnellstmöglich aufgenommen, verarbeitet und über die efferenten Leitbahnen an die anzusteuernden Muskeln geleitet, um durch die Aktivierung der Antagonisten zur schnellen posturalen Kontrolle einen Sturz des Sportlers zu vermeiden.

Gleiches gilt beispielsweise auch für Bewegungen in der Dunkelheit, wenn das visuelle System nicht genügend Informationen aufnehmen kann. Bei einem ungeschulten neuromuskulären System ist in der Regel eine verlangsamte Bewegungsausführung bzw. eine Hemmung die Folge.

Hieraus wird ersichtlich, welchen Einfluss das Zusammenwirken dieser analytischen Systeme auf die effiziente und verletzungsfreie Bewegungsausführung haben kann.

Die Optimierung des neuromuskulären Gesamtsystems ist demnach der Kerninhalt des NAT, was vor allem auch im Rehabilitationsprozess nach einer zurückliegenden Verletzung von Bedeutung ist, um Folgeverletzungen zu vermeiden und die Leistungsfähigkeit durch Abbau solcher Hemmungen wiederherzustellen.

Trainingsinhalte im Neuroathletiktraining

Durch gezielte Aktivierung, z. B. des visuellen Systems vor der sportlichen Belastung bzw. im Alltag mithilfe sogenannter 'Drills', wird das Zusammenspiel der beteiligten Systeme optimiert.

Differenzierte Übungen, die meistens aus dem propriozeptiven Training im Rehabilitationsbereich bekannt sind, sollten demnach in jedem Trainingsprogramm vorzufinden sein, unabhängig davon, ob der Trainierende diese zur Wiederherstellung oder zur Steigerung der Leistung verwendet.

Werden Übungen zur Aktivierung des neuromuskulären Systems regelmäßig zu Beginn einer Trainingssession eingesetzt, so werden diese vom Gehirn als 'bekannt' wahrgenommen, was grundsätzlich das Bewegungslernen erleichtert.

Durch die Änderung bestimmter Bewegungsmuster von 'unbekannt' zu 'bekannt' reduzieren sich ebenso die hemmenden Einflüsse auf die Bewegungsgeschwindigkeit.

Der Grund für Defizite oder Leistungsstagnationen kann dementsprechend auch eine Hemmung des neuromuskulären Systems aufgrund unbekannter Bewegungsmuster sein.

Solche Hemmungen treten allerdings nicht nur bei unbekannten Bewegungsmustern auf, sondern auch bei Bewegungen, die mit unangenehmen Empfindungen wie Schmerz assoziiert werden.

Bewegungsmuster, bei denen man sich eine Verletzung zugezogen hat, sind dementsprechend ebenfalls beeinflusst von diesen Hemmungen, die im nachfolgenden Rehabilitationsprozess gezielt abgebaut werden müssen, um die 'alte' Leistungsfähigkeit wiederzuerlangen.

Somit dient das NAT auch als Filter für 'richtige' (= leistungssteigernde) und 'falsche' (= leistungshemmende) Bewegungsmuster und ebenso als Korrekturmaßnahme.

Da das Nervensystem reaktiv ist, kann der unmittelbare Erfolg eines 'Drills' festgestellt werden. Es gibt Testungen, die die beteiligten Strukturen in der Bewegungskoordination prüfen (z. B. Kleinhirntests), um so herauszufinden, welche Bewegungsabläufe zur Korrektur abzuleiten sind.

Sie machen darüber hinaus die Trainingsfortschritte des neuromuskulären Zusammenspiels überprüfbar.

Fazit – Grundlagen des Neuroathletiktrainings (NAT)

Das Neuroathletiktraining ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise des neuromuskulären Systems und sensibilisiert Trainer dazu, mehr Wert auf die Aktivierung der neuronalen Strukturen zu legen.

Wenn alle Systeme optimal zusammenarbeiten, ist eine sichere und effektive Bewegungsausführung gewährleistet, wodurch sich der Leistungsoutput steigert.

Diverse Übungen zur Steigerung der neuromuskulären Interaktion sollten je nach Zielsetzung und Ausgangslevel in jedes Trainingsprogramm implementiert werden.

Über die Autoren

Professor Dr. Daniel Kaptain ist unter anderem Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) und der BSA-Akademie.

Er promovierte im Fachbereich Sportwissenschaften. Darüber hinaus ist er Experte für Konditions- und Athletiktraining sowie ausgebildeter Trainingstherapeut.

Professor Dr. Ulf Sobek ist Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) und BSA-Akademie sowie Fitnesstrainer der U-20- und U-19-Fußballnationalmannschaft des DFB.

Der Sportwissenschaftler war als Co- und Athletiktrainer des 1. FC Saarbrücken und 1. FC Köln tätig, wo er 2011 die Deutsche Meisterschaft der U17 gewann.

Mehr zum Thema Neuroathletiktraining

NAT in der Praxis: Gehirn und Muskeln als Partner beim Neuroathletiktraining

Im anderen Teil unserer zweiteiligen Artikelreihe über NAT stellen unser Experten Assessments, Wirkungsmechanismen und praktische Anwendungsbeispiele des Neuroathletiktrainings dar.

Erschienen sind die beiden Artikel in den Ausgaben 02/20 und 03/20 der fitness MANAGEMENT international (fMi). Sie erhalten die fMi noch nicht? Dann abonnieren Sie sie direkt hier, damit Sie diesen und viele weitere Fachartikel nicht verpassen

Literaturliste

Quante, M. & Hille, E. (1999). Propriozeption: Eine kritische Analyse zum Stellenwert in der Sportmedizin. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 50 (10), 306–310.
Schmid-Fetzer, U. & Lienhard, L. (2018). Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. München: Pflaum.

Vormerken! Neuer Praxisworkshop Neurotraining

Die BSA-Akademie erweitert ihr Bildungsangebot um den 'Praxisworkshop Neurotraining'. Darin lernen Teilnehmende viele Übungen kennen, die unmittelbar in der Praxis umsetzbar sind.

Die ersten Termine dieses eintägigen Praxisworkshops sind für Herbst 2020 geplant. Weitere Informationen erhalten Sie in der Juni/Juli-Ausgabe 03/2020 der fMi sowie in Kürze auf der Webseite der BSA-Akademie.

dhfpg

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